Glauben: Wann ist die Zeit für Frieden?

Von Annette Zoch
https://www.sueddeutsche.de/politik/kirchentag-pazifismus-krieg-nuernberg-1.5915124 
Nürnberg, 9. Juni 2023

Welche Rolle hat Pazifismus noch in Zeiten des Krieges? Das fragen sich auch Teilnehmer des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg. (Foto: Thomas Lohnes/Imago)

Der Krieg in der Ukraine hat die Debatten auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag verändert. In Nürnberg diskutieren Gläubige dieses Jahr, welchen Wert Pazifismus noch hat.

Die St. Johanniskirche ragt hoch auf über den Gräbern des gleichnamigen Friedhofs. Hier oben merkt man wenig vom Kirchentags-Trubel in der Altstadt, den bunten Schals, den Bühnen und Posaunenchören. Und doch ist auch hier Evangelischer Kirchentag. Vielleicht zwanzig Menschen haben den Weg in die kleine Kirche gefunden, sie haben die Köpfe geneigt und beten: "O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens. Dass ich liebe, wo man hasst, dass ich verzeihe, wo man beleidigt, dass ich verbinde, wo Streit ist."

Vorne im Altarraum stehen Dieter Oberländer und Matthias Sengewald, abwechselnd sprechen sie Gebete vor. Sie sind aus Erfurt angereist und während des Kirchentags zu Gast in der Johanniskirche. Sie gehören zu den Organisatoren des sogenannten Erfurter Friedensgebets - der ältesten Gebetsinitiative der östlichen Bundesländer.

Auf dem Podium sitzt erstmals der Generalinspekteur der Bundeswehr

Seit 1978 treffen sich evangelische und katholische Christinnen und Christen in der katholischen St. Lorenzkirche in Erfurt, jeden Donnerstagabend, und beten für Frieden und Gerechtigkeit. Damals wollten die Initiatoren gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichts durch Margot Honecker demonstrieren. Weil Eingaben und Proteste erfolglos blieben, trafen sie sich fortan, um das Mindeste - und vielleicht auch das Mächtigste - zu tun, was Christen tun können: beten.

Auch an jenem Donnerstag im vergangenen Jahr, als Russland die Ukraine überfiel. "Wir waren ratlos, wütend und ohnmächtig", sagt Dieter Oberländer. "Eigentlich waren wir doch schon viel weiter, es war uns gelungen, nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Friedensordnung aufzu­bauen. Der Angriffskrieg hat das alles in Frage gestellt, das Militärische ist wieder selbstverständ­lich geworden."

Bibelarbeit mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Kirchentag in Nürnberg.,
(Foto: Daniel Karmann/dpa)

So selbstverständlich, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Kirchentags am Freitag­nachmittag der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, auf einem Podium Platz nimmt. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eines der zentralen Themen dieses Deutschen Evangelischen Kirchentags in den Nürnberger Messehallen, der noch bis Sonntag andauert.

Der Krieg in der Ukraine hat etwas verändert, auch in den Debatten über den Frieden auf dem Kirchentag - einem Forum mit dezidiert pazifistischer Vergangenheit. Gibt es den gerechten Krieg? Wie lässt sich das christliche Tötungsverbot mit Waffenlieferungen vereinbaren?

Die Diskussion sei moralisch extrem aufgeheizt, sagt Jan Gildemeister, Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden. Es gebe kaum Nebentöne: "Von der Grund­stimmung fühlt es sich an wie im Kalten Krieg: Es geht nur darum, ob man dafür oder dagegen ist." Gildemeister engagiert sich auch in der Ökumenischen Friedensdekade, einem Zusammen­schluss verschiedener christlicher Friedensinitiativen. Die politische Situation sei enorm schwierig und komplex, aber: "Unsere Aufgabe ist es, Fragen zu stellen und die Perspektive der Gewaltfreiheit wach zu halten. Wir müssen diese Zwischenräume mit Fragen füllen."

Eine wichtige Figur des deutschen Protestantismus, die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann, hat sich in der Vergangenheit zum Beispiel gegen Waffenlieferungen positioniert. Sie hat auch den umstrittenen Aufruf zu Friedensverhandlungen von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterzeichnet und dafür viel Kritik geerntet. Käßmann, die bei Kirchentagen sonst zuverlässig riesige Hallen füllt, ist nun erstmals nicht da, sie lächelt nur überlebensgroß vom Stand ihres Buchverlages herunter. Warum sie nicht angereist ist, darüber gehen die Darstellun­gen auseinander. Käßmann hatte gesagt, der Kirchentag habe eine Konzertlesung mit ihr und Konstantin Wecker nicht gewollt, der Kirchentag hatte das dementiert. Es ist kompliziert.

Von Sofa-Pazifisten und Sofa-Bellizisten

Auf dem großen Podium zur Friedensethik ist die Theologin dann zu Beginn doch kurz vertreten: Liedermacher Clemens Bittlinger spielt während eines Liedes einen kurzen O-Ton Käßmanns ein, "Christen sagen nicht zu allem Ja und Amen", ist da zu hören. Ein Zeichen des Protests?

Kirchentagspräsident Thomas de Maizière leitet die Debatte ein mit einer Kritik an den Sofa-Pazifisten, die es genauso gebe wie Sofa-Bellizisten. Beide machten sich die Sache zu leicht. "Christen müssen sich immer schwertun mit der Anwendung von Gewalt", sagt er. "Wer denn sonst?" Und dann zieht er ein Beispiel aus seiner politischen Vergangenheit heran: "Wer als verantwortlicher Verteidigungsminister mit den Müttern an den Särgen gefallener Soldaten steht, wird nie leichtfertig über die Anwendung von Gewalt urteilen."

Generalinspekteur Breuer erinnert daran, dass die Menschen in der Ukraine konkretes Leid erlitten und keine philosophische Diskussion führen könnten: "Wenn der Westen nicht mit Waffen unterstützt hätte, wäre der Krieg zu Ende, aber die Ukraine unter dem Joch Russlands", sagt er. "Der Krieg wäre vorbei, aber das Leiden ginge weiter."

"Wir als Christinnen und Christen sind verpflichtet, auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit hinzu­wirken", sagt Sven Giegold, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Gleichzeitig seien die Waffenlieferungen aber richtig: "Wenn Putin gewinnt, dann herrscht nicht Frieden, sondern dann ist unsere Friedensordnung noch schwerer beschädigt als jetzt schon."

Auf eine provokante Frage aus dem Publikum, wie viele weitere Tote unsere Werte denn wert seien, antwortet Generalinspekteur Breuer: "Ich habe geschworen, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Tapferkeit heißt auch, unter Einsatz unseres Lebens. Wir Soldaten haben diese Frage für uns schon beantwortet."

Die dezidiert pazifistische Position vertritt der Landesbischof der Evangelischen Kirche Mittel­deutschland, Friedrich Kramer: "Wo bleiben die Initiativen?", fragt er mit Blick auf mögliche Friedensverhandlungen. Waffenlieferungen würden die Eskalation des Krieges befördern. "Wie verhalten wir uns als Nachfolger Jesu Christi, der seinen Jüngern die Waffe aus der Hand nahm?", fragt er.

Friedensgebet in der Lorenzkirche Erfurt. (Foto: Matthias Sengewald)

Auch Dieter Oberländer in der kleinen Johanniskirche bezeichnet sich als Pazifist: "Ich halte Waffenlieferungen für schlimm, aber in diesem Fall für notwendig", sagt er. Mit Putin könne man nicht verhandeln. Der Krieg in der Ukraine könne sofort beendet werden. Wenn Russland seine Soldaten abzöge, dann müsste kein Mensch mehr sterben. In diesem Dilemma stecke man. Aber, so sagt Oberländer: "Es ist gut, dass wir für Zeiten, in denen wir nicht wissen, was wir tun sollen, das Gebet haben."

Friedensgebet in der Lorenzkirche Erfurt. (Foto: Matthias Sengewald)

Auch Dieter Oberländer in der kleinen Johanniskirche bezeichnet sich als Pazifist: "Ich halte Waffenlieferungen für schlimm, aber in diesem Fall für notwendig", sagt er. Mit Putin könne man nicht verhandeln. Der Krieg in der Ukraine könne sofort beendet werden. Wenn Russland seine Soldaten abzöge, dann müsste kein Mensch mehr sterben. In diesem Dilemma stecke man. Aber, so sagt Oberländer: "Es ist gut, dass wir für Zeiten, in denen wir nicht wissen, was wir tun sollen, das Gebet haben."