Bericht vom bundesweiten Vernetzungstreffen der Friedensgebetsgruppen vom 7. bis 9. 10. 2022 in Leipzig

Der Freitag begann mit einer Motette in der Nikolaikirche und dem Thomanerchor mit Werken von Heinrich Schütz, anschließend Abendbrot mit gegenseitiger Vorstellung und Austausch über die Friedensgebete.

Der Samstag war bestimmt von thematischer Arbeit: Mit Konfliktforscherin Prof. Solveig Richter von der Universität Leipzig zum Thema „Auf dem Weg zu einem friedlichen Europa“ (s.unten). Ihre Sicht als Wissenschaftlerin provozierte Diskussionen, ein paar Stichworte davon: Es gibt guten und schlechten Frieden – gibt es gerechten Krieg? – kann Pazifismus einen Krieg beenden? - und am Nachmittag mit 6 Workshops.

Am Sonntag waren wir eingeladen zu Gottesdiensten in der evangelischen Thomaskirche, der katholischen Protsteikirche oder der (neu aufgebauten) Universitätskirche. Danach konnte jede/r individuell an den verschiedenen Angeboten am Vortag des "Friedensfestes" teilnehmen, u.a. bei Stadtführungen, im "Zeitgeschichtlichen Forum", der "Runden Ecke" (ehemalige Bezirksverwaltung der STASI).

Am Sonntag endete das Treffen, aber die meisten nahmen an den Feierlichkeiten zum „Tag der Friedlichen Revolution“ teil: Das Friedensgebet mit der Kantate von Felix Mendelssohn Bartholdy zu Psalm 42, einer Predigt von Pfarrerin Kathrin Oxen (s.unten).
Anschließend hielt Irina Scherbakowa die „Rede zur Demokratie“ (s.unten), die mit „Memorial“ und zwei weiteren soeben den Friedensnobelpreis erhalten hat. 

Zum anschließdenden Lichterfest konnten alle Leipzig in einem ganz anderen Licht erleben. 

1. unter folgendem Link kann man sich die Präsentation des

Vortrag von Prof. Solveig Richter

und ein paar Bilder von Jürgen Lassauer herunterladen:
    https://www.dropbox.com/sh/chb4nqne38nk1dq/AADyG94VjCuhFaLhulYLkwO-a?dl=0

2. Unter diesem Link findet man das Video der

Rede zur Demokratie von Dr. Irene Scherbakowa:

   https://www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/unsere-stadt/herbst-89/rede-zur-demokratie

3. 

Fürbitte des Friedensgebetes in der Nikolaikirche vom 10. Oktober

Guter Gott, ein dankbarer Blick auf uns selbst offenbart: 
Wir haben so viel. Wir haben so viel erreicht.
Und doch lässt unser Durst nach Leben nicht nach. 
Wir bitten dich, Gott, du Quellgrund unseres Lebens:

Keine Gewalt 
schallte es heute vor 33 Jahren durch die Straßen unserer Stadt und von dort in die Welt.
Wir spüren, wie groß heute die Sehnsucht nach einem Ende der Gewalt ist:
in der Ukraine, im Kaukasus, in Syrien und in so vielen weiteren Kriegsregionen der Welt.
Wir leiden darunter, dass der brutalen militärischen Aggression gegenwärtig nur mit Gegengewalt Einhalt geboten werden kann.

Frauen – leben – Freiheit 
schallt es heute durch den Iran und von dort in die Welt.
Wir verfolgen, wie groß die Sehnsucht nach Gleichberechtigung und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben ist;  
welche unbändige Kraft Frauen und Männern, 
so viele junge Menschen in der muslimischen Welt entfalten, 
um Gutes zu bewirken für die Menschen in ihren Heimatländern.
Wir erinnern an die Friedliche Revolution und bitten um deinen Geist des Friedens, 
der Freiheit und der Gerechtigkeit im Umbruch des Nahen und Mittleren Ostens.

2022 ist nicht 1989. Wir leben in keiner Diktatur 
schallt es gegenwärtig von den Mauern der Stadtkirchen Leipzigs.
Wir leben in demokratisch begründeten und verfassten Verhältnissen.
Und erleben, wie groß die Sehnsucht nach einem respektvollen Umgang miteinander in unserer Stadtgesellschaft ist; wie wichtig es ist, nicht zuerst mein Wohl zu suchen, sondern das Gemeinwohl zu unterstützen. 

Wir erinnern an die Friedliche Revolution und bitten um deinen Geist, der uns aufeinander zugehen lässt, der mir die Ohren und das Herz  öffnet und die Kraft schenkt, meinen Durst nach Leben im Vertrauen auf Dich zu stillen. 
Gemeinsam beten wir zu dir: Vater unser…

4. Folgendes Gedicht schrieb Petra Ng'uni aus Gotha:

friedensgebet
für alle friedensbeter*innen

vorsichtig heben wir
die bitte
um frieden

mit unseren zitternden
leeren händen
vor dich

voll zerbrechlicher hoffnung
dass du
uns erhörst


Petra Ng'uni/09. Oktober 2022, Leipzig
 

Licht der Freiheit

Predigt zu Psalm 42 am 9. Oktober 2022
beim Friedensgebet in der Nikolaikirche Leipzig

Pfarrerin Kathrin Oxen, Berlin

„Über der Ostsee leuchtete für uns das Licht der Freiheit“. Er war nicht immer da, der Find-ling aus rauem Granit mit dieser Inschrift. Er steht erst seit dem Jahr 2000 in der Nähe des Leuchtturms in Dahmeshöved an der Ostsee, zwischen Lübeck und Fehmarn. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Bei guten Wetter, besonders an klaren Herbsttagen wie jetzt, konnte man die Küstenlinie auf der anderen Seite der Ostsee sehen. Und im Sommer beim Baden auch. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch habe ich mir aber nicht vorstellen können, dass es dort, auf der anderen Seite, in der „Zone“, wie sie bei uns genannt wurde, auch Dörfer und Städte gab, dass dort Menschen ihr Leben lebten, zur Schule gingen und zur Arbeit, in der Ostsee badeten, sich am Strand ein Eis kauften.

Wir gingen manchmal am Leuchtturm spazieren. Es gab Strandpartys dort, das Meer leise atmend in der sanften Dünung, darüber die Sterne. Und das gleichmäßige Leuchtfeuer, das über unsere Köpfe strich. Was wusste ich davon, dass in einer dieser Sommernächte viel-leicht gerade jemand an dem anderen Strand ins Wasser stieg, mit einem Faltboot, einem Surfbrett, in einem Neoprenanzug, um die dreißig Kilometer Luftlinie in den Westen zu über-winden, den Leuchtturm von Dahmeshöved immer im Blick. Was wusste ich schon von der DDR, von der Zone, der Sehnsucht nach Freiheit, so groß, dass Menschen ihr Leben dafür riskierten und einen kalten stummen Tod starben in der doch eigentlich so friedlichen Ostsee. 

Was bedeuten denn Geschichte und Politik, wenn sie die eigene Lebensgeschichte einfach nicht berühren? Wir hatten keine Verwandtschaft drüben. Wir schickten nicht mal Westpakete. Das Leuchtfeuer strich gleichmäßig über unsere Köpfe. Und wir wussten nichts von der Sehnsucht, mit der sie dort auf der anderen Seite zu uns hinübersahen. Wir saßen in der Freiheit am Strand. Und wir achteten nicht darauf, dass dies die Freiheit war.

Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.
Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.
Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?

Über der Ostsee leuchtete für sie das Licht der Freiheit und wir wussten nichts davon, drü-ben auf unserer Seite der Ostsee. Auch nichts von dem dunklen Abend im Oktober 1989 und dem Zug der Menschen auf dem Leipziger Ring. Ich wusste nichts von all dem, was davor schon gewesen war, von den Montagen in der Nikolaikirche und in den Kirchen überall im Land, von den Scharen derer, die dort zusammenkamen. Auch wenn es nicht meine Geschichte ist, wenn ich keinen Anteil daran hatte: Ich will mich daran erinnern, zusammen mit euch. Damit wir nicht sitzenbleiben wie im Dunkeln und das Licht der Freiheit achtlos über unsere Köpfe hinweg streichen lassen.

Lasst uns daran denken, dass für so viele Menschen ein Leuchtfeuer der Hoffnung, ein Orientierungspunkt für ihre Sehnsucht ist, was vor 33 Jahren in unserem Land geschah. Dass diese Geschichte und diese politischen Ereignisse in Deutschland bis heute das Leben
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anderer Menschen berühren, weit entfernt von uns in Europa und in der ganzen Welt. Dass dies alles ihnen Mut und Kraft gibt, in ihren Ländern an dem festzuhalten, was sie hier in Leipzig und überall im Herbst 1989 auf den Straßen gerufen haben: Wir sind das Volk. Keine Gewalt.

Was wusste ich damals von Leipzig? Und was wussten wir wirklich von Vilnius und Riga und Tallin, von Minsk und von Kiew und von Moskau, bevor im Februar der Krieg begonnen hat? Wir saßen in unserem Frieden in Europa, als lägen wir faul am Strand und bräuchten weiter nichts für ihn zu tun. Und jetzt, da er fort ist, spüren wir auf einmal die Sehnsucht nach ihm, wie der vor Durst kranke Hirsch, wie ein gejagtes und bedrängtes Tier.

Und manchmal kommt es mir vor, als flöhen wir erschreckt wie schon lange nicht mehr in verschiedene Richtungen aus dieser neuen Realität. Die einen mit ihren ewig gleichen Pa-rolen, mit ihrem dumpfen Protest gegen alles und jeden, erst gegen den Islam, dann gegen die Pandemie, jetzt gegen den Klimawandel und die Energiekrise. Sie verachten die Wahr-heit und die Freiheit und die Demokratie. Und sie benutzen zum Ausdruck ihrer Verachtung die Rechte, die ihnen die Freiheit und die Demokratie überhaupt erst gegeben haben.

Wir müssen sie wahrscheinlich ertragen, all die Spaziergänge, auch noch an den Montagen, egal wie widerlich diese Aneignung der Ereignisse von 1989 ist. Denn auch die widerwärti-gen Reden sind von der Meinungsfreiheit gedeckt. Das Licht der Freiheit, auch der Mei-nungsfreiheit streicht ruhig und gleichmäßig über alle Köpfe, die darunter leben, auch über die Köpfe der Verächter der Freiheit. Es ist ein klarer Orientierungspunkt. Und zugleich bleibt es der ewige Stachel im Fleisch der Demokratie: Dass man sogar die Freiheit hat, sie zu verachten.

Aber deswegen faul herumliegen und all dies unwidersprochen hinnehmen darf trotzdem niemand. Meinungsfreiheit bedeutet, seine Meinung äußern zu können, jede Meinung. Und Demokratie ist das Recht und die Pflicht, Meinungen zu widersprechen, die man als falsch erkennt. Wenn sie rufen Wir sind das Volk, dann müssen wir laut zu hören sein und rufen: Wir sind auch das Volk. Weil Politik und Geschichte immer das eigene Leben berühren. Und man besser nicht so lange warten sollte, bis man es im eigenen Leben und an den politi-schen Verhältnissen merkt.
Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich.
Deine Fluten rauschen daher, und eine Tiefe ruft die andere;
alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.

Wie der Hirsch schreit und sucht, voller Durst nach einer anderen Realität, erschreckt und verwirrt und ganz kopflos, gibt es auch noch andere Fluchtwege aus der Realität. Es ist nicht leicht, hier davon zu sprechen, hier, wo die Revolution begann, die wir später die friedliche genannt haben. Keine Gewalt, diesen Ruf haben wir uns ja nicht selbst ausgedacht. Es ist der Ruf Jesu in unsere gewalttätige und friedlose Welt hinein. Die andere Wange hinhalten und die Feinde lieben, diese große, radikale, ewige Provokation für alle, die den Weg Jesu gehen wollen.

Keine Gewalt. Ein Ruf, an dem sich niemand vorbeiducken kann. Ein Wort wie ein Leucht-feuer, das ruhig und stetig über alle Politik und alle Geschichte hinwegstreicht. Und das auf die Klippen weist, an denen wir stranden werden, wenn wir den Weg der Gewalt versuchen.
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Wie Wogen und Wellen geht es über uns alle gerade und eine Tiefe ruft die andere. Es geschehen Dinge, die wir uns nicht haben vorstellen können. Sie wühlen sogar die sonst so friedlichen Wasser der Ostsee auf. Sie brechen alle Brücken ab. Und sie sprengen auch alle bisherigen Überzeugungen, besonders die radikal pazifistischen.

Keine Gewalt. Der Ruf Jesu gilt. Und es betrübt unsere Seelen so sehr und beunruhigt uns bis auf den Grund, dass wir uns nicht an ihn halten können angesichts dieses Krieges. Es geht nicht, dass wir bequem in den Sesseln unserer Talkshows und in unserem Frieden sitzen und von den Menschen in der Ukraine verlangen, dass sie ihre Wange hinhalten sollen und ihre Feinde lieben, bis ihr Land und ihre Freiheit und ihre Demokratie untergan-gen sind.

Keine Gewalt. Der Ruf Jesu gilt. Und wir können uns jetzt nicht daran halten. Wir müssen aushalten, dass angesichts dieser neuen Realität die alten Weltbilder zerbrechen. Sie ha-ben viele von uns nichts gekostet und verlangen von vielen von uns nichts. Aber angesichts dieser Feinde wird es nicht ohne Gewalt und nicht ohne Waffen gehen. Es ist und bleibt der falsche Weg. Wir gehen ihn dennoch. Diesen Widerspruch müssen wir aushalten. Und diese Schuld müssen wir auf uns nehmen. Auch wenn wir heute schon die Klippen sehen können, an denen wir stranden werden. Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir.
Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen?
Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich drängt?
Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken,
dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.

Sie war nicht immer da, die Freiheit. Und es ist nicht selbstverständlich, dass sie über un-seren Köpfen leuchtet und dass die Straßen dieser Stadt von ihrem Licht erfüllt sind heute Abend. Lasst uns darauf achten, dass dies die Freiheit ist.

Und lasst an der Seite derer bleiben, die heute um sie kämpfen, die jetzt traurig gehen müssen, von Feinden bedrängt. Sie sind doch jetzt wie Leuchtfeuer in ihren Ländern. So wie die Menschen und die Organisationen aus Belarus, aus der Ukraine und aus Russland, die vor wenigen Tagen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden sind. Wir haben das Privileg, dass eine von ihnen, Irina Scherbakowa, gleich zu uns sprechen wird. Mit un-seren betrübten und unruhigen Seelen werden wir ihr zuhören. Und mit ihr und mit allen harren wir auf den Tag, an dem das Licht der Freiheit allen Menschen leuchtet.

Amen