Kerzen und Gebete – Wurzeln der Freiheit

(17.12.2008) — Landesbischof Dr. Christoph Kähler
Zum Adventsempfang der Evangelischen Kirchen in Thüringen am 17. Dezember 2008 hat Landesbischof Christoph Kähler an die "Kerzen und Gebete" im Herbst 1989 und an die Friedensgebete, insbesondere in Leipzig, erinnert.

"... 3. Es gab gute Gründe, um Frieden zu beten, um den Frieden in unserem Land, das seine Bürger so scharf bewachte, aber auch um den Frieden in Europa – an der Grenze zweier hochgerüsteter Systeme. Wer kann sich das alles noch vorstellen? Wie fremd ist uns doch vieles geworden? Gott sei Dank! Doch darf ich meine Fragen noch ein Stück fortsetzen?

Wann haben Sie zum ersten Mal ein Friedensgebet besucht; zumindest aber es mehr oder weniger von außen wahrgenommen?

Die Frage ist keine Gretchen- und keine Gewissensfrage. Denn als der oft vergessene Jugenddiakon Günter Johannsen zum ersten Mal mit seiner Jugendgruppe in der Leipziger Nikolaikirche ein Friedensgebet hielt, da war das so wenig spektakulär, das bis heute sogar die Jahresangaben über den Beginn unter den wenigen Beteiligten des Anfangs schwanken (schon 1981 oder erst 1982?). Es waren zunächst sehr kleine Gruppen, die die Friedensverantwortung und die Friedenserziehung unter den neuen Bedingungen des vormilitärischen Unterrichts in der Schule ins Gebet nehmen wollten.

Die Friedensgebete waren zunächst keine Massenveranstaltung, eher intime Andachten (Tiefensee). Auch nach einer ersten größeren Bekanntheit gab es immer wieder ein Auf und Ab in der Beteiligung von Gemeindegliedern und Außenstehenden. Denn wenn es eine Grundbedingung für dieses und für andere Gebete gibt, dann ist es die Freiwilligkeit des Betens, eine Schwester der Freiheit. Ein erzwungenes Gebet ist ein Widerspruch in sich selbst.

Als ich selbst häufiger "montags um fünf" dort saß - lange vor dem Herbst 1989 - , hatte ich immer wieder auch gemischte Gefühle. Denn da saßen viele Ausreiseantragsteller und hatten Mühe, beim Gebet die Hände zu falten und das Vaterunser mitzusprechen und die sich wiederholenden Lieder mitzusingen, denn eine Reihe von ihnen war eher nicht christlich erzogen worden. Ich habe erst spät begriffen, dass und warum sich Pfarrer Christian Führer und andere Kollegen im Lande dieser Gruppe so zuwandten. Diese Menschen lebten nämlich über Monate und Jahre im persönlichen und gesellschaftlichen Niemandsland - in Gedanken schon lange nicht mehr hier, aber in der Realität auch noch nicht drüben. Frieden und Bestärkung suchten sie an einem öffentlichen Ort, der Gemeinsamkeit und Zuspruch außerhalb der geltenden und von ihnen abgelehnten politischen Normen bot.

Allerdings stritten sich die engagierten Gruppen und die kirchlich Verantwortlichen lebhaft und regelmäßig über das zuträgliche Maß an Offenheit und politischer Botschaft. Ja, zur Geschichte dieses längsten ununterbrochenen Friedensgebet an einem Wochentag gehören auch offene Auseinandersetzungen im Altarraum der Kirche, also Bilder, die wir uns nicht in einer Kirche und schon gar nicht beim Gebet vorstellen möchten. - In der Jenaer Friedenskirche formulierte Landesbischof Werner Leich in ähnlichen Auseinandersetzungen um die Jenaer Friedensbewegung: "Die Kirche ist für alle da, aber nicht für alles." Das war richtig, musste aber von Tag zu Tag neu in seiner Reichweite bestimmt werden.

Diese Auseinandersetzungen werden heute oft mit einem nachträglichen Metermaß auf den Mut und die Standfestigkeit des Einzelnen oder der beteiligten Gruppen und der Institutionen hin gemessen. Natürlich darf man auch danach fragen. Doch sollte man dabei nicht vergessen, dass solche Argumentation und Gegenargumentation, solche z.T. massiven Differenzen zwischen Jungen und Alten, Wagemutigen und Vertretern der Institutionen unserer Kirche ausgetragen wurden und darin ein erster unvollkommener, schwieriger und bedrohter Versuch praktizierter Offenheit und Freiheit lag - nach langen Jahren bleiernen Schweigens. In die Gebete gingen die begründeten Ängste, die angespannt-bedrohliche Situation, die verschiedenen Erwartungen sehr heterogener Teilnehmer ein. Die große Einmütigkeit in überfüllten Kirchen und der stürmische Beifall aller Anwesenden sind, das darf man nicht vergessen, erst ein späteres Ergebnis und nicht etwa der Anfang der Friedensgebete in unsicheren Zeiten mit unsicheren Perspektiven, aber unter ganz sicherer Beobachtung.

In diesem Streit, den die Vertreter der Kirche nach zwei Seiten ausfechten mussten, mussten sie auch Mittler zwischen denen sein, die nicht miteinander redeten, zwischen der Staatsmacht und den Oppositionellen. Hier wurden öffentliche Auseinandersetzungen indirekt vermittelt, die wir heute selbstverständlich an anderem Ort und in anderer Weise möglichst direkt erwarten und erleben. Aber heute wie damals geht es um eine Basis der Fairness für alle Seiten, die die Freiheit des Andersdenkenden anerkennt und so weit wie möglich schützt. Selbst noch der Streit um die Friedensgebete stellt eine Wurzel der Freiheit dar, die wir heute haben und zu pflegen haben!

Zeichen der im Friedensgebet gewonnenen Freiheit waren übrigens auch die sehr unterschiedlichen Konsequenzen, die die Teilnehmer für sich nach den Gebeten zogen: Während die einen den Mut fassten, in die westlichen Kameras zu rufen: "Wir wollen raus!", dokumentierten andere ihre Emanzipation mit dem Satz: "Wir bleiben hier!" Fassten die einen Mut, aus dem Gebet heraus in eine verbotene Demonstration zu gehen, ließen sich andere in der Demonstration kurz vor Weihnachten 1989 dazu bewegen, keine politischen Parolen zu rufen und keine Transparente mit aktuellen Forderungen zu tragen. Bibeltexte, Gebet und Gesang haben die Beteiligten nicht uniformiert, sondern die Individuen persönlich gestärkt und zur eigenen Verantwortung ermutigt. Es gehört zu den unbeabsichtigten, aber nicht zufälligen Folgen der Montagsgebete, dass sich aus ihnen heraus verschiedene politische Gruppen und Parteien gebildet haben - eben nicht nur eine.

Was bedeuteten nun aber die Kerzen? Und woher stammten sie?

Auf diese Fragen habe ich noch keine abschließende Antwort, obwohl ich eine Reihe von Experten dazu befragte. Sicher war und ist ihr Symbolwert zunächst unmittelbar einleuchtend: Wer auf offener Straße eine brennende Kerze in der Hand hält, kann nicht zuschlagen. Die andere Hand muss die Kerzenflamme schützen. Zugleich verweist ihre Trägerin aber darauf, dass es dunkel ist und Helligkeit nötig. Kerzen sind ein sprechendes Symbol der Gewaltlosigkeit und der Sehnsucht nach Hilfe, wo wir uns kaum selbst helfen können. Aber wer hat sie damals benutzt und wer dazu angeregt?

Ich zähle mindestens drei Wurzeln für das Symbol der Kerzen in der DDR-Revolution. Natürlich stellen wir seit vielen Jahrhunderten Kerzen auf den Altar und es ist höchstes Zeichen der Trauer am Karfreitag und Karsamstag, wenn diese Lichter ausgehen. Doch zusätzlich sind in der liturgischen Bewegung des evangelischen Kirchentages und weit darüber hinaus Kerzen neu in Gebrauch gekommen bei der Fürbitte. Der Satz und die Handlung „Ich zünde eine Kerze an für …“ wurden in den 60er und 70er Jahren zu einem eindrucksvollen Zeichen der Sammlung und der Andacht – in den Kirchen.
Aber wie war es außerhalb? Bei Nichtchristen? Ein berühmtes öffentliches Moment waren die Kerzen älterer Dresdner Bürger, die am 13. Februar 1985, dem 40. Jahrestag der Zerstörung Dresdens, an der Ruine der Frauenkirche ihrer traurigen Erinnerung und ihrer Sehnsucht nach Frieden Ausdruck verliehen. „Weine du geliebte Stadt..“, hatte 1945 eine Dresdnerin gedichtet. Keineswegs alle Menschen an der Frauenkirche gehörten mehr zu einer Gemeinde und hatten sich vorher zu entsprechenden Andachten in der Kreuz- oder der Hofkirche eingefunden. Die Behörden aber waren gegen diese Kerzen und das nichtorganisierte Gedenken ziemlich rat- und machtlos.

Ein zweites Moment außerhalb der Kirchen in der Jugendkultur der DDR bedarf eigentlich einer gründlicheren Untersuchung: Der Film „Blutige Erdbeeren“ kam Anfang der 70er Jahre auch in die DDR-Kinos und entwickelte sich rasch zu einem Kultfilm unter Jugendlichen. Sie erkannten in dem Film über die Studentenunruhen an der Columbia-University in New York ihre eigene Machtlosigkeit und ihren Polizeistaat wieder. Kerzen, der John-Lennon-Song „Give Peace a Chance“ und rhythmisches Trommeln auf dem Boden wurden für einige Zeit die Erkennungsmerkmale von Gleichgesinnten. Allerdings habe ich selbst erst spät von dem Rockkonzert vom 7. Oktober 1977 auf dem Alexanderplatz in Berlin gehört. Dort entstanden heftige Krawalle auf denen Sprechchöre der Jugendlichen zu hören waren wie: "Nieder mit der DDR", "Mauer weg", "Honecker raus - Biermann rein", "Was ist Deutschlands größte Schande - die Honecker-Bande", so die damals angelegten Stasiakten. Angesprochen auf diese Zeit und diesen Song: „Gib dem Frieden eine Chance“, erlebe ich bei manchen, die damals jung waren, die unmissverständliche rhythmische Bewegung. Wurzel der Freiheit?

Ja, auch das. Denn mit den Kerzen in der Öffentlichkeit, den Protestsongs innerhalb und außerhalb der Häuser wie mit den alten Gebeten (Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird) und den scheinbar antiken Kirchenliedern (Sonne der Gerechtigkeit gehe auf zu unserer Zeit) mit allem diesen erlebte die Gesellschaft der DDR, wie wieder zusammenfand, was lange Zeit nicht zusammen zu gehen schien: Bürgergesellschaft und Jugendkultur, Kirche und politischer Protest, Aussprechen von Angst und Trauer wie zarte Hoffnungsbilder. (Übrigens haben wir ähnliches auch wieder im April/Mai 2002 in Erfurt erlebt – nach den Morden am Gutenberggymnasium).

Mit Kerzen und Gebeten konnte der Protest gegen die bedrückende Dunkelheit und zugleich eine Hoffnung auf mehr Licht, also auch mehr Freiheit von vielen ausgedrückt werden. In den Kirchen artikulierte sich – nicht am Sonntagmorgen – aber am Montag, zu Beginn der Woche, eine ganze Gesellschaft, die bis dahin an Sprachlosigkeit litt.
Ich bin mir sicher, dass die Revolution in der DDR früher oder später gekommen wäre. Die konnte niemand verhindern, aber auch nicht produzieren. Doch was sich gestalten ließ, bis hin zu unzähligen Runden Tischen mit der Fairness ihren Geschäftsordnungen, das war die Art und Weise, wie die alte Macht durch eine Volksbewegung in selten friedlicher Form abgelöst wurde. Dafür gibt es nicht so sehr viele Beispiele in der Geschichte. Das hat auch manche Altradikale damals ziemlich gewundert, ja verunsichert. Doch ich bin mir sicher, dass die Friedlichkeit dieser Umwälzung damals eine Bedingung dafür war, das Gewalt nicht mit Gegengewalt beantwortet wurde und die Freiheit der Andersdenkenden auch denen zugestanden werden konnte, die sie selbst nicht hatten einräumen wollen...

Kerzen und Gebete haben sich in unserer Geschichte als Zeichen der Gewaltlosigkeit und Stärkung des gewaltlosen Widerstandes bewährt. Sie haben eine Freiheitsgeschichte ermöglicht und ihr Ausdruck gegeben, die wir uns bewahren wollen. Gerade angesichts eines Wirtschaftsjahres, das erhebliche Prüfungen dieser Gesellschaft mit sich bringen wird, eines Jahres für das kein Vernünftiger eine klare Prognose wagt, angesichts von Herausforderungen, die nur gemeinsam bestanden werden können, ist ein Rückblick, auf das, was uns stärkt und Hoffnung schöpfen lässt, keine Nostalgie, sondern Ermutigung in schwierigen Zeiten.

Ich wünsche Ihnen, also uns allen, in diesen Tagen einen Kerzenschimmer, der Hoffnung auf Hilfe auch jenseits unserer Möglichkeiten weckt und wach hält."

Die gesamte Ansprache unter: www.ekmd.de/glaube/vortraege/kerzen-und-gebete-wurzeln-der-freiheit.html