Friedensarbeit und Friedensgebete – spirituelle Wurzeln der Friedlichen Revolution 1989/90

von Aribert Rothe

(in: Stadt und Geschichte Zeitschrift für Erfurt, Nr. 43 03/09, 12f.) 

Quellentext zur Wehrerziehung in der DDR (1971)

„Kompass der wehrerzieherischen Tätigkeit … ist der Marxismus-Leninismus, besonders die marxistisch-leninistische Lehre von der Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes. Das Ziel unserer politisch-ideologischen Arbeit besteht darin, mitzuhelfen, die Jugendlichen zu standhaften Patrioten und glühenden Internationalisten zu erziehen, zu klassenbewussten Kämpfern, die ihr sozialistisches Vaterland lieben, die unverbrüchlich für die Freundschaft und die Waffenbrüderschaft mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten einstehen und die ihre Solidarität mit der kämpfenden Arbeiterklasse und der Nationalen Befreiungsbewegung durch Taten für den Sozialismus begründen. Unsere politisch-ideologische Arbeite soll beitragen, Bürger unseres sozialistischen Staates zu erziehen, die sich in der vormilitärischen Ausbildung und im Wehrsport umfassende Kenntnisse zum Schutz des sozialistischen Vaterlandes aneignen.“[1]

Protestantische Friedensbildung

Demgegenüber entwickelten sich Mitte der 70er Jahre in den evangelischen Kirchen in der DDR vielfältige friedensethische Aktivitäten, die sich mehr oder weniger direkt der umfassenden politisch-ideologischen Erziehung und Militarisierung der Gesellschaft entgegen stellten. Aus Treffen gedienter Bausoldaten und neuen Initiativen entstanden aktive Friedensgruppen und Friedensseminare im kirchlichen Raum. Seit 1983 trafen sie sich im landesweiten Seminar “Konkret für den Frieden”. Im Zusammenhang des Konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung  nahmen ab 1985 auch Basisgruppen teil, die sich mit Umweltfragen und Problemen der Dritten Welt und einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung sowie Menschenrechten beschäftigten. Die Kompetenz der Betroffenheit wurde durch Informationsaustausch verstärkt, und der hohe Vernetzungsgrad schuf eine Art Parlament und Denkschule der oppositionellen Basisgruppen und Bürgerbewegungen.

Aber auch außerhalb dieser Szene wurden friedenspädagogische Ansätze umgesetzt. Sie boten unweigerlich klare Alternativen zur staatlichen Friedenspolitik und –erziehung, schöpften sie doch aus dem aktuellen friedenspädagogischen Know how. In Erfurt verstand sich der Evangelische Kirchenkreis im Ganzen – koordiniert vom Evangelischen Ministerium – als Träger der kirchlichen Friedensarbeit; im engeren Sinne das Evangelische Jungmännerwerk Thüringen, der Friedensgebetskreis, die Offene Arbeit Erfurt, die Evangelische Stadtjugendarbeit, die Evangelische Stadtmission, die Evangelische Studentengemeinde und weitere Interessengruppen.[2]    

Die krasseste Herausforderung war 1978 die Einführung des obligatorischen Wehrunterrichts mit mehrtägigen Abschlussübungen und Militärlagern in den 9. Klassen aller Schulen. Sie markierten „im Prozess der Militarisierung der Jugend ... eine entscheidende Zäsur”[3]. Der holzschnittartigen Agitation der staatlichen Erziehungseinrichtungen waren freilich evangelische Friedenserziehung und Elternbildung rational deutlich überlegen. Ihr sozialpsychologischer Zuschnitt begründete sich biblisch-theologisch, bezog individuelle Konfliktebenen ein und klärte anschaulich über die propagierten Feindbildmechanismen auf. So gab die zentrale Arbeitsgruppe Friedensdienst der evangelischen Jugendarbeit qualifizierte Merkblätter heraus für Jugendwarte und Pfarrer, die bei Armeestandorten tätig waren. Im Auftrag der Konferenz der Kirchenleitung in der DDR vervielfältigte 1982 der Bruderrat der Jungmännerwerke einen Leitfaden zur seelsorgerlichen Beratung in Fragen des Wehrdienstes und der Wehrerziehung in 2000 Exemplaren, dem auch eine Informationsmappe “zur Frage der möglichen Führung eines Krieges mit atomaren Waffen” beilag usw.

„Schwerter zu Pflugscharen“ - die Friedensdekaden

Trotz der Mauer waren die Kirchen keineswegs isoliert, sondern europäisch gut vernetzt. So konnten Anfang 1980 die Impulse einer Studenten- und Jugendkonferenz in Budapest (1978) und der Vollversammlung des Ökumenischen Jugendrates in Europa (Oslo 1979) umgesetzt werden, Friedenswochen zu veranstalten. Vereinzelt lagen bereits ähnliche Erfahrungen vor. Nun griffen die Landesjugendpfarrer die Idee auf, gemeinsame Friedenstage im gesamten Raum der DDR anzubieten. Die zentrale Arbeitsgruppe Friedensdienst initiierte jährliche Friedensdekaden; erstmals 1980 unter dem Motto “Frieden schaffen ohne Waffen”  und dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen (Jesaja 2 und Micha 4)“. Es ist nach einem sowjetischen Denkmal gestaltet, das vor dem UNO-Hauptgebäude in New York steht. Trotz massiver staatlicher Maßnahmen besonders in den Schulen gegen Träger des populären Textil-Aufnähers, bestätigten Kirchenleitungen und Synoden dieses Kennzeichen ausdrücklich und unterstützten es mit einer Fülle von Beschlüssen und Orientierungstexten.

Die regelmäßig Mitte November bis zum Herbstbußtag stattfindende Veranstaltungsreihe fügte sich an vielen Orten attraktiv in den Kirchenjahreskalender ein. Ein qualifizierter Anteil politischer Bildung in Vorträgen, Ausstellungen, Diskussionen und Seminaren brachte im Wechsel mit liturgisch-meditativen und kulturellen Elementen ein aufgeschlossenes Publikum zusammen.[4] Erfahrungen gesellschaftlicher Militarisierung, evangelische Sozialethik und internationale Friedensforschung wurden in beachtlicher Reflexionstiefe „auf der Höhe der theologischen, friedensethischen und politischen Erkenntnisse” verarbeitet, wie die Bundessynode 1986 in Erfurt feststellen konnte. Dagegen sahen Partei- und Staatsmacht darin vorwiegend feindlich-negative Kräfte wirken. Während der Durchführung war auf allen staatlichen Ebenen Alarm angesagt. Auch kommunale Funktionsträger wurden quasi militärstrategisch einbezogen. Täglich fanden operative Beratungen zur Lage statt. 1986 legte das MfS fest: „Vorausmeldungen zu Schwerpunktveranstaltungen sind unter Beachtung der Konspiration telefonisch an die Hauptabteilung XX/4 … zu geben. Operativ bedeutsame Vorkommnisse sind dem Leiter der Abteilungen XX sofort zu melden. Es ist zu gewährleisten, dass die Abteilungen XX (der einzelnen BV) während des Zeitraumes der stattfindenden ‚Friedensdekade 1986‘ auch nach Dienstschluss besetzt sind.”[5]

„Erfurter Friedenstage“

Unter dem Motto „Frieden wächst aus Gerechtigkeit” boten z. B. die ökumenischen Erfurter Friedenstage 1985 folgende gut besuchte Veranstaltungen: Abendgebet zur Erinnerung an die sogenannte „Reichskristallnacht” - Liedvesper am Martinstag „Geht‘s euch gut?” mit Ralf Elsner, Berlin – „Theologie aus der Perspektive der Armen - zur lateinamerikanischen Theologie der Befreiung” Prof. Dr. Ullrich, Erfurt - Jugendgottesdienst für den Frieden mit der „Rock und Bluesband Nr. 13” – „Wie Hunger gemacht wird (Informationen zur 3. Welt)”, B. Seypel, Struth (INKOTA) -  „Friede und Gerechtigkeit im Jahre 2000 - Bedingungen und Möglichkeiten“ Dr. K. H. Romberg, Berlin - Spielszenen mit der Theatergruppe „Seifenblase”, Erfurt – „Die Bedeutung der Bergpredigt für unser Friedenshandeln”; C. P. Oestreicher, London – Konzert Ensemble für intuitive Musik, Weimar - Bittgottesdienste in den Gemeinden - Stilles Gedenken auf dem jüdischen Friedhof – „Lieder der Hoffnung und Gerechtigkeit” – „Wer wagt - der lebt”, ökumenische Frauengruppe - “Phantasie für die Gerechtigkeit - miteinander reden - miteinander feiern”, ESG Erfurt - Friedensminute beim Geläut der Glocken - Bußgottesdienst – Ständiges (!) Friedensgebet in der Lorenzkirche

Politische Spiritualität

Die spezifische Ausdrucksform politischer Spiritualität bildeten die Friedensgebete, wie sie seit Ende der 70er Jahre vielerorts entstanden. Informationsteile wechseln hier mit biblischen Texten, Auslegungen, Liedern, Klagen und Fürbitten bei einfacher liturgischer Gestaltung. Die hier entwickelte Verbindung informativ-aufklärender und religiös-ethischer Momente ist für die Kommunikation in der geschlossenen DDR-Gesellschaft kaum zu überschätzen. Im spirituellen Kontext entstanden Kristallisationspunkte der Motivation und des Protestes. Sie führten schließlich zum couragierten Handeln und bildeten oft die Initialzündungen für die Dynamik des gesellschaftspolitischen Umbruchs. Nicht von ungefähr formierten sich die Demonstrationszüge 1989 in der Regel in den Kirchen.

Erfurter Friedensgebet

Es ist das älteste kontinuierliche Friedensgebet in den heutigen östlichen Bundesländern und findet noch immer jeden Donnerstag 17.00 Uhr in der römisch-katholischen St. Lorenzkirche statt. Es entstand nicht aus einer Friedensdekade heraus wie andernorts, sondern als Reaktion auf die Einführung des Wehrkundeunterrichts im Schuljahr 1978/79. Nachdem die Mitinitiatorin Ilse Neumeister, Mitarbeiterin im Evangelischen Jungmännerwerk Thüringen, gerüchteweise davon gehört und einen Gesprächskreis der Predigergemeinde darüber informiert hatte, schrieb ein Erfurter Oberarzt mehrere kritische Eingaben an die Ministerin für Volksbildung, die ohne Antwort blieben. Daraufhin - inspiriert durch Reinhold Schneiders Gedichtzeile „Allein den Betern kann es noch gelingen / das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten“ - regte seine Frau zunächst die Bildung eines Kreises „Frauen beten für den Frieden“ an. Dabei legte sie Wert auf einen öffentlichen Sakralraum. Die beheizbare Lorenzkirche, zentral in der Stadtmitte gelegen, bot sich dafür an, und der Pfarrer stellte sie bereitwillig zur Verfügung. So wurde der ökumenische Charakter der Gebetsinitiative noch deutlicher, die sich auf Vorschlag von Dieter Oberländer (Jungmännerwerk) seit ihrem Beginn am 7. Dezember 1978  Friedensgebet nannte. Einen festen Teilnehmerkreis bildeten vorwiegend ältere Frauen, aus aktuellen Anlässen immer wieder erweitert durch eine größere Teilnehmerschaft. Die Liturgie ist schlicht und flexibel; sie besteht aus wenigen Liedern, Vaterunser, dem franziskanischen Gebet „Herr, mach mich zum Werkzeug Deines Friedens“ und aktuellen Fürbitten. Dabei kann es um Wehrdienstleistende oder Verweigerer, Aufrüstung, Raketenstationierung oder militärische Konflikte gehen. Während der Friedensdekaden wurden die Friedensgebete ausgedehnt auf Andachten, die mit vielen Vorbetenden rund um die Uhr stattfanden. Ilse Neumeister führte einen Kalender für die jeweils Verantwortlichen. Erst  Mitte der 80er Jahre etablierte sich ein koordinierender Friedensgebetskreis, in dem auch Pfarrer i. R. Karl Metzner mitarbeitet.  

Aus der Kirche auf die Straße

Im Oktober 1989, als sich auch in einigen Erfurter Kirchen bereits die Bürgerbewegungen formierten, war mehr als ungewiss, ob die Machthaber zur angedrohten chinesischen Lösung greifen würden, wenn die Proteste auf die Straße gingen. Am 14. Oktober kündigten ein evangelischer und ein katholischer Theologiestudent gemeinsam im Jungmännerwerk an, dass sie nach dem nächsten Friedensgebet einen Gang der Betroffenheit zur Andreaskirche planten.[6] Gegenüber war das Stasi-Gebäude. So kam es zur ersten mutigen Demonstration mit ca. 70 Personen. Wie ein Lauffeuer sprach sich herum: Nächsten Donnerstag 17.00 Uhr erst Friedensgebet - dann Demo!  Schon bald wurde in vier Innenstadt-Kirchen – Lorenz-, Kaufmanns-, Prediger- und Wigbertkirche - zum Friedensgebet eingeladen, bevor die Menschen mit Kerzen in den Händen als Demonstrationszug zur Kundgebung auf den Domplatz zogen. Keine Gewalt! Der Geist der Gewaltlosigkeit war mit ihnen.  


[1]         Zentralvorstand der Gesellschaft für Sport und Technik, Hauptabteilung Patriotische Erziehung, Hinweise für die Planung und Leitung der politisch-ideologischen Erziehungs- und Bildungsarbeit in Lagern der vormilitärischen Ausbildung- für Funktionäre in der vormilitärischen Ausbildung, Berlin 1971, S. 3.

[2]    Vgl. Metzner, I., Die Friedensbewegung in Erfurt in der Endphase der DDR, Diplomarbeit im Studiengang Historisch orientierte Kulturwissenschaften, Universität des Saarlandes, 2008.

[3]         Geißler, G., Wiegmann, U., Pädagogik und Herrschaft in der DDR. Die parteilichen, geheimdienstlichen und vormilitärischen Erziehungsverhältnisse, Frankfurt a. M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996, S. 264.

[4]    Vgl. Rothe, A., Evangelische Erwachsenenbildung in der DDR und ihr Beitrag zur politischen Bildung, mit Quellenband, Leipzig 2000.

[5]      Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Staatssicherheit, Stellvertreter des Ministers, Mittig, an Leiter der MfS-Bezirksverwaltungen, Betreff: Politisch-operative Maßnahmen im Zusammenhang mit der Durchführung der kirchlichen “Friedensdekade 1986”, VVS-o008 MfS-Nr. 55 / 86. Berlin, 14.10.1986; in: Besier, G., Wolf, St. (Hg.), „Pfarrer, Christen und Katholiken”. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1), Neukirchen-Vluyn 1992, S. 93. Abteilung XX befasste sich mit Bekämpfung politisch-ideologischer Diversion und Sicherung Staatsapparat, Kultur und Kirche.

[6] Vgl. Köst, P., Domaschke, F., Kunert, A., „Aus dem Leben der Kirche, Vor Gott um Frieden ringen, Aspekte des Erfurter Friedensgebetes“, Geist und Leben, Ausgabe 63, Heft 2 März/April 1990, S. 118-132.  Ihre Arbeitsmaterialien hat Ilse Neumeister dem Stadtarchiv als Nachlass übergeben worden. Stadtarchiv Erfurt, 5/110 N 2-1, Band 1-5.